Lebenszeichen - Matthias Marx:Ein Liebesbrief

Ich bin im ältesten Viertel einer Stadt in Burgund, hier gibt es viele kleine Gassen, in denen man auf- und absteigen kann. An einer Wegbiegung ist die Bruchsteinmauer weiß beklebt, und dort hat jemand mit dem Filzstift einen längeren Text hinterlassen. Es muss eine jüngere Frau sein, das verrät das französische Original. Ihren erstaunlichen öffentlichen Brief habe ich Wort für Wort abgeschrieben:
„Seit zwei Monaten begegnen wir uns, doch ich hoffe, das gilt auch so lange wie möglich, für unser ganzes Leben. Ich habe nur noch dich vor Augen, ganz zu schweigen dein süßes Gesicht, ja ganz einfach dein süßes Gesicht, das mich so anstrahlt, jedes Mal, wenn ich dich treffe. Die Wärme deiner Hand schenkt mir Sicherheit, dein Lächeln und dein wunderschönes Lachen machen mich noch viel mehr verrückt nach dir.
Du füllst mein ganzes Leben aus, seit du zurückkamst, und ich danke dir dafür. Danke dafür, dass du ganz einfach du bist – ich liebe dich, und dieses Gefühl bestimmt alles, solange du noch da bist. J. für S.“
Also vielleicht: Julie für Stéphane.
Das alles hat sie sich von der Seele geschrieben, es musste einfach raus. Aber nicht im Netz, nicht gepostet und auch nicht in ihrem Tagebuch.
Sie hat zwar die Öffentlichkeit gesucht, aber nur in einer kleinen Gasse.
Und dann so altertümlich, mit dem Filzstift auf den Karton. Das findet man sonst nur, wesentlich kürzer, in großen Buchstaben auf einer Autobahnbrücke.
Geht der Geliebte hier immer vorbei? Hat er die Botschaft überhaupt einmal wahrgenommen? Sie schreibt: „Seit du zurückkamst“ – war er also lange weg gewesen, waren sie vielleicht sogar wirklich eine Zeit lang getrennt?
Wer weiß es – in jedem Fall finde ich diese öffentliche Liebeserklärung sehr anrührend und geradezu poetisch. Romantik im tiefsten Sinn, das gibt es also auch heute noch.
Sie – nennen wir sie Julie – schreibt, dass er ihr Sicherheit gibt, und dass seine Schönheit und eben diese Sicherheit ein Leben lang bleiben sollen. Der Wunsch nach Ewigkeit…
Doch es gibt auch den leisen tragischen Ton: „Solange du da bist.“
Weiter unten und an der Seite haben verschiedene Leute, die das gelesen haben, ziemlich freche Kommentare dazugeschrieben. Zum Beispiel: „Viel zu lang und viel zu schwer“, oder: „Schmusekatzen“, oder auch „Es reicht!“
Dann hat noch ein anderer seinen Senf dazugegeben: „Hör auf zu schwätzen und mach was!“
Ob diese „Julie“ das ihrerseits gelesen hat? Waren ihre Erwartungen berechtigt, gingen sie in Erfüllung? Hat die Liebe sie blind gemacht?
Konnte sie ernst nehmen, was der letzte Kommentar meint: „Hör auf zu schwätzen, und mach was“? War da überhaupt irgendwas machbar?
Ich muss ehrlich zugeben, dass ich dieser Geschichte ein Happyend wünsche. Ein großer Bühnenautor behauptet, dass die Sehnsucht nach einem Happyend „nicht bloß aus einem kitschigen Optimismus“ kommt.
Nein, diese Sehnsucht kommt aus dem ganz tiefen Wunsch nach Glück, nach einer Liebe, die kein Strohfeuer bleibt, die wetterfest bleibt. Sie kommt aus der Leidenschaft, dieser enormen Triebkraft der Hoffnung, die bereit ist, wirklich aufs Ganze zu gehen. Und die liebend gerne sagen will: Ende gut, alles gut.
Wie auch immer diese Burgunder Geschichte ausgeht, Julie hat eine ungeheure Erfahrung gemacht, an der sie nur wachsen kann.
Wie hat sie ihrem Freund geschrieben? „Danke dafür, dass du ganz einfach du bist“.
Das möchte ich an Julie zurückgeben und hoffe, dass es auch ihr jemand sagt.