Lebenszeichen - Luisa Maurer:Hinter das Kreuz!

“Ich laufe jetzt weiter vorne. Sonst kann ich nicht mehr.” Das sagt Susi zu mir. Es sind 28 Grad. Wir haben sicher schon 40 Kilometer zu Fuß hinter uns. Wir sind seit morgens 5 Uhr unterwegs. Und so um die 10 Kilometer liegen noch vor uns, bis wir am Abend endlich ankommen. Mit Susi und einigen anderen bin ich auf einer Pilgerreise in Italien. Um die 50 Kilometer laufen die Italienerinnen und Italiener eines kleinen Ortes in den Abruzzen jedes Jahr an Pfingstmontag. In diesem Jahr waren auch wir dabei. Und ja, das ist echt anstrengend!
Susi ist 53 Jahre alt. Sie hat eine Knieprothese. Und hätte nie gedacht, dass sie den Weg wirklich schafft. Nach 40 Kilometern sagt sie also zu mir: “Ich laufe jetzt weiter vorne. Sonst kann ich nicht mehr. Ich brauche etwas, das mich zieht.” So pi mal Daumen sind sicher 100 bis 150 Menschen mit uns unterwegs an diesem Montag. Ganz vorne gehen die jüngsten Pilgerinnen und Pilger vorweg. Die Jugendlichen des Ortes. Sie tragen abwechselnd ein Kreuz aus Holz vorneweg. Susi läuft nun direkt hinter ihnen. Später verrät sie mir: “Keine Ahnung warum. Irgendwie hat das Kreuz mich motiviert, weiterzulaufen und nicht aufzugeben.”
Ich gebe es zu: Dieser Mammutmarsch ist ein kleines bisschen verrückt. Und nicht jede und jeder kann da Schritt halten. Warum gehen Menschen da mit? Eine junge Frau verrät mir: “Ich habe sonst immer bei der Essensstation geholfen und die Pilgernden versorgt. Ich wollte es nun einmal selbst schaffen.” Als sie tatsächlich ankommt, muss sie weinen vor Stolz und Freude. Von einer Freundin weiß ich: “Ich gehe den Weg für meine verstorbene Mutter. Weil der Weg und die Tradition auch ihr wichtig waren.” Und ein junger Mann sagt: “Ich hatte wirklich keine Ahnung, worauf ich mich einlasse, ich dachte, ich gehe einfach mal mit. Und nun denke ich, wenn Susi und ihr Mann das in ihrem Alter so weit schaffen, dann kann ich das vielleicht auch.”
Das Gefühl diese Tour geschafft zu haben, ist unvergleichlich. Egal, ob man alles mitgegangen ist oder eben nur so viel, wie möglich. Der Pilgerweg lehrt mich, aufeinander Rücksicht zu nehmen: Dankbar sein für jeden Schluck Wasser, für ein stärkendes Mittagessen und einen Schattenplatz. Und natürlich für die Menschen, die sich auf dem Weg um mich kümmern. Die mir mein Essen und Trinken bringen und Medizin, wenn ich welche unterwegs brauche. Und ich bin dankbar für die guten Gespräche unterwegs, auch für die ermutigenden Worte von den lieben Menschen, die mit mir gehen.
Zum Beispiel eben von Susi. Die ist am Ende angekommen. “Das Kreuz, das da ganz vorne getragen wurde, das hat mich gezogen.”, weiß sie im Nachhinein.
Mit dem Kreuz da kennen die Italienerinnen und Italiener keinen Spaß. Denn: Niemand darf vor dem Kreuz laufen. Über die ganzen 50 Kilometer wird genaustens darauf geachtet, dass das Kreuz ganz vorne läuft und es niemand überholt. Mich erinnert es daran, dass es manchmal, darauf ankommt: Nicht immer muss ich die Erste, Größte oder Schnellste sein und vorneweg rennen. Das Kreuz hilft mir, zu begreifen, dass es immer noch etwas mehr, etwas Größeres als mich selbst gibt. Dass es manchmal guttut, mich selbst nicht zu wichtig zu nehmen. Und dass ich als Mensch immer auf andere angewiesen bin. Susi hat recht. Das zieht und mit dieser Haltung lassen sich die Wege meines Lebens besser schaffen!