Zwischenruf - Marita Rings-Kleer:Wähle das Leben!

Mein Vater hat keine Tomaten gegessen!
Als Kind hat unsere Familie das einfach nur zur Kenntnis genommen.
Niemand hat es hinterfragt!
Nach dem Tod meines Vaters fand ich in einem alten Foto-Album ein vergilbtes Blatt Papier, aus dem hervorging, dass mein Vater nach dem Ende des 2. Weltkrieges in ein Gefangenen-Lager in der Ukraine gebracht worden war, um dort als Zwangsarbeiter in der Landwirtschaft zu helfen.
Drei lange Jahre, keine gute Zeit für den blutjungen Mann.
Eher eine Zeit voller Not, Krankheit und vor allem Hunger.
Deshalb stelle ich mir vor, dass er oft genug von den Feldern dieser so fruchtbaren „Kornkammer“ Russlands faule oder unreifes Gemüse mitgehen ließ, um überhaupt etwas zum Essen zu haben.
Durchfall und andere Beschwerden waren dann die Antwort darauf.
Kein Wunder, dass er später von Tomaten nichts mehr wissen wollte.
Niemand quält sich gern mit schlimmen Erinnerungen.
Und doch waren es genau diese traumatischen Erinnerungen, die aus dem jungen Mann von damals einen Menschen voller Zuneigung, Herzenswärme, Freundlichkeit und Lebendigkeit gemacht haben.
Das Lebensmotto meines Vaters war:
„Es gibt immer zwei Möglichkeiten“.
Nach dem Grauen des Krieges hat er sich für die Menschlichkeit und gegen den Hass entschieden.
Viele andere haben es nicht getan, haben Hass und Gewalt weitergetragen. 
Nicht so mein Vater!
Er wollte nach der Zeit des Todes leben und lieben und hat genau das für sich gewählt und in seiner Familie umgesetzt.
Nur eines ist geblieben: er hat nie mehr Tomaten gegessen.