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Lebenszeichen - Michael Kinnen:Wann wird man hier jemals wieder Gottesdienst feiern?

Vor vier Jahren stand das Ahrtal unter Wasser: die verheerende Flut hat viel Leid und Tod gebracht - aber auch viel Hilfsbereitschaft.
Man sieht kleine grüne Pflanzen, die gerade begiinngen zu wachsen
Datum:
12. Juli 2025
Von:
Michael Kinnen

Kommende Woche ist wieder Jahrestag. Vier Jahre. Da stand das Ahrtal in der Flut - mit Toten und viel Zerstörung. Ich war damals als Helfer beim Schlammschippen in einer Kirche. Bald wird sie nach der langen Renovierung wieder eröffnet. Damals, mit den Gummistiefeln im Schlamm und mit der Schippe und dem Eimer in der Hand, mitten in der überschwemmten Kirche, sind mir diese Gedanken gekommen, an die ich mich heute wieder erinnere: 
Wann wird man hier jemals wieder Gottesdienst feiern können?
Dem Herrn Jesus steht das Wasser am Tabernakel fast bis zum Hals, man sieht noch die Linie, wie hoch das Wasser stand.
„Seht die Wohnung Gottes unter den Menschen“ steht auf dem Tabernakel. Aus der biblischen Apokalypse. „Die Wohnung Gottes unter den Menschen“: Mitten in Ahrweiler. In der Kirche. Das Ewige Licht drohte auszugehen, jemand hat es immer wieder erneuert. 
Es brennt - das Hoffnungslicht - auch jetzt. 
Wann wird man hier jemals wieder Gottesdienst feiern?
Ich denke an Claudia, Antonius und Michael, mit denen ich ohne viele Worte den Schlamm in die Schubkarre geschaufelt habe, der knöchelhoch zwischen den Kirchenbänken stand - noch eine Woche nach der Flut. Schubkarre um Schubkarre. Eimer für Eimer. Stundenlang.
Ich denke an Hamid - aus Syrien geflohen - bei dem ich genau hinhören musste, um ihn zu verstehen - genauso hinhören wie bei Dirk mit seinem Ahrweilerer Dialekt. Angepackt haben alle - mal mit, mal ohne Worte. Verstanden haben wir uns bestens. (…)
Ich denke an die Saarländer-Gruppe, die ins Auto gestiegen war, um an der Ahr zu helfen. Der vertraute Dialekt und die zupackende Art auch hier... - wunderbar.
Ich denke an den Klang von "Meine Hoffnung und meine Freude", diesem schönen Taizé-Lied, das einer immer wieder gepfiffen hat beim Arbeiten - gemischt mit dem schmatzenden Geräusch der Matsch-Schuhe auf dem Boden.
Ich denke daran, wie ich mit dem Teppichmesser die Kniebänke aufgeschlitzt habe, um die nassen Polster von den Bänken abzuziehen - und daran, wie viele Menschen hier wohl gekniet haben mit ihren Sorgen und Nöten, freiwillig oder unfreiwillig. Hier ist heute niemand in die Knie gegangen. Und das war auch gut so.
Ich denke an die SchaulÄstigen, die mit ihren auffallend sauberen T-Shirts in die Kirche kamen, um Handy-Fotos zu machen und wieder zu gehen - und daran, wie alle ihnen auch das verziehen haben.
Ich denke daran, wie auf dem staubigen Marktplatz kistenweise Sachspenden standen, Konserven, Teddys, Kleider - und die Zahnbürste im Matsch - unbenutzbar und doch trotzig.
Ich denke an die freundliche Einladung des mobilen Hähnchengrill-Manns, sich einfach zu bedienen, egal wie oft, wie viel - kostenlos natürlich - und an den Winzer, der mich auf dem Feldweg eingesammelt und einfach mitgenommen hat in den Ort, weil ich außerhalb parken musste. Und es gibt so viele, die alles verloren haben - und so viele andere, die so viel jetzt weiter verschenken, weil sie es können.
Ich denke an so viele Begegnungen und Gespräche, die hier nicht in die vier Minuten „Lebenszeichen“ passen. Es sind noch so viele Geschichten nicht erzählt.
Ich rieche den moderigen Geruch von Schlamm und Schmodder in der Kirche noch immer: Wann wird man hier jemals wieder Gottesdienst feiern?
Vielleicht ist das, was in diesen Mauern gemeinsam erlebt, gefühlt, durchlitten und gehofft wurde, was Fotos und Videos nicht zeigen und Worte nicht ausdrücken können, was Menschen miteinander und füreinander tun - einer der intensivsten Gottesdienste, den diese Kirche jemals erlebt hat und erleben kann… - Gott sei Dank! - Trotzdem.