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Zwischenruf - Thomas Mann:Werde wie ein Kind

Die Erwachsenen sollten viel öfter wie die Kinder sein. Gipfelkreuze können für die Wanderer eine Hilfe und eine Orientierung sein.
Ein Kopfhörer liegt auf einem Buch, daneben steht eine Tasse mit Tee oder Kaffee
Datum:
8. Okt. 2025
Von:
Thomas Mann

Ich sitze beim Arzt im Wartezimmer. Neben mir eine gehörlose Frau. Sie unterhält sich mit ihrer Freundin in Gebärdensprache. Flinke Hände, dazu kehlige Laute.
Daneben sitzt eine Mutter mit ihrem etwa fünfjährigen Sohn. Der Junge starrt völlig gebannt die gehörlose Frau an. „Mama, was macht die Frau da?“ (fragt er flüsternd). Im Wartezimmer wird es still.
Zuerst ist es der Mutter ein wenig peinlich. Dann erklärt sie sehr behutsam ihrem Sohn, was er da sieht. „Die Frau kann nicht hören und nicht gut sprechen. Darum spricht sie mit ihren Händen. Das ist eine eigene Sprache.“ Der Junge hört sehr aufmerksam zu und auch die beiden Frauen merken, dass über sie gesprochen wird. Alle im Wartezimmer schauen nun gespannt hin.
Da steht der Junge plötzlich auf. Geht zur gehörlosen Frau und hält ihr sein Spielzeug hin, ein schillerndes Ei. Die Frau schaut abwechselnd das Ei und den Jungen an.
Dann nimmt sie es zögerlich und öffnet es vorsichtig. Ein kleiner Drache kommt heraus. Die Frau fängt bei dem Anblick an zu strahlen. Wir alle strahlen.
Der Junge hat durch seine einfache Geste uns allen in diesem Wartezimmer einen wunderbaren Moment bereitet. Ohne viele Worte. Ohne Umwege.
Als der Junge und seine Mutter die Praxis verlassen winkt er nochmals ins Wartezimmer und ruft: „Auf Wiedersehen!“ Alle winken zurück, besonders die gehörlose Frau. Und ich höre mich laut sagen „Wir sollten viel öfter wie dieses Kind sein.“