Zwischenruf - Wolfgang Drießen:Auf dem Deich
Darauf freue ich mich jedes Jahr, wenn ich die beiden Windmühlen sehe.
Ich bin angekommen. Auto parken und vergessen.
Tief einatmen. Salzgeruch. Koffer abstellen. Die festen Schuhe an- und die Mütze über die Ohren ziehen.
Raus und rauf auf den Deich.
Die Welt wird anders. Als hätten Wind und Weite alles weggepustet.
Um mich herum ist nichts mehr. Ich breite die Arme aus. Ich kann fliegen.
Über Wiesen und Felder. Über das Wattenmeer.
Unterwegs auf dem Deich. Mit und gegen den Wind.
Eine Stunde geradeaus. Fliegen mit den Wildgänsen. Laufen mit den Schafen.
Sitzen im Gras. Den Leuchtturm umrunden.
Und zurück. Jeden Tag, so oft wie es geht.
Diesen Text habe ich auf einer Bank geschrieben. Die steht auf dem Deich irgendwo in Ostfriesland. Der Deich ist so was wie mein ganz persönlicher Kraftort. Solche Orte gibt es seit ewigen Zeiten und ganz viele Menschen kennen solche Plätze, von denen eine ganz eigene Ausstrahlung ausgeht. Wer mit offenen Sinnen durchs Leben geht, der spürt irgendwann: an diesem oder jenem Ort, da passiert etwas mit mir, da zieht es mich immer wieder hin, dieser Ort tut mir gut. Warum das so ist, das spielt keine Rolle. Wichtig ist, dass es so ist. Ob es das Meer, der Deich, der Berg, die Bank, die Wüste, das Wegekreuz, die Gartenlaube, die Waldkapelle oder ein Baum ist – das ist völlig egal. Diese schöne Erde, Gottes Schöpfung, auf der wir leben, ist alles, was wir haben. Und ob der Deich, die Wiese, der Wald, das Meer auch morgen noch da sind und uns Kraft geben, liegt in unserer Hand. Auch daran denke ich, wenn ich wieder einmal über den Deich gehe.