Zwischenruf - Wolfgang Drießen:Besser die Hand ausstrecken
Zwei junge deutsche Studenten sind kurz nach dem 2. Weltkrieg zu Fuß unterwegs in Frankreich. Auf der Landstraße fährt ein großer PKW an ihnen vorbei. Einige Meter vor ihnen bremst er. Ein Chauffeur mit Mütze steigt aus. Wo sie denn hinwollen und ob sie ein Stück mitfahren wollen. Gerne steigen die beiden ein. Im Fond sitzt ein älterer Herr mit Brille. Um ihn herum liegen Akten. Die räumt er beiseite. Er grüßt freundlich, fragt die beiden nach ihren Namen und wo sie herkommen. Er interessiert sich für die Lage in Deutschland, wie junge Menschen dort leben und denken. Irgendwann fällt bei den beiden Jungs der Groschen. Sie sitzen zusammen mit dem französischen Außenminister im Auto, Robert Schuman. Der ist bis heute einer der ganz großen Europäer der Nachkriegsgeschichte. Und ein tief gläubiger Christ. Von ihm kam die Idee, Frankreich und Deutschland wirtschaftlich so zu verzahnen, dass ein Krieg zwischen diesen beiden Nationen praktisch unmöglich werden sollte. Dazu gehörte auch die Bereitschaft, Deutschland nach dem Krieg nicht mit eiserner Faust zu beherrschen, sondern sich mit dem neuen deutschen Staat zu versöhnen. Was daraus wurde, hat Geschichte geschrieben. Die Europäische Union. Die hat es geschafft, 77 Jahre lang, bis 2022 Frieden in Europa zu bewahren. Gäbe es heute überall auf der Welt Politiker wie Schuman, dann sähe es ganz sicher friedlicher aus. Dann würden Hände ausgestreckt und nicht mit der Faust gedroht. Dann würde ernsthaft zugehört statt populistische Parolen gegrölt. Als Robert Schuman 1950 seinen Plan einer wirtschaftlichen Union mit Deutschland auf Augenhöhe öffentlich macht, fragt ein Journalist: „Herr Minister, ist das nicht ein Sprung ins Ungewisse?“. Und Schuman antwortet: „Ja, schon. Aber den müssen wir machen“. Solche Politiker wünsche ich mir heute. Menschen, die die Hand ausstrecken und nicht die Faust ballen.