Lebenszeichen - Marliese Klees:Frieden schaffen
Opernbühnen sind Orte, auf denen die Dramen der Menschheit verhandelt werden. So auch im Oktober 2014, vor 10 Jahren: damals wird das Tanzoratorium „Shelf Shock. A war requiem“ von Nicholas Lens und Nick Cave in Brüssel uraufgeführt. Es ist ein Gedächtnisstück, das an die Schrecken des 1. Weltkrieg erinnert. Es sind 15 Trauergesänge, die Nick Cave dafür geschrieben hat. Die Gesänge sind aus der Perspektive der vom Krieg betroffenen Personen geschrieben, aus der Sicht der Soldaten und der Krankenschwester, der Deserteure und Überlebenden, des Todesengel, der Gefallenen und Verschollenen, der Mütter und Kinder. Was sie zu Gehör bringen, was sie auf der Bühne darstellen, sind die Traumata aller, die unter Kriegen und ihren Folgen leiden, damals im 1. Weltkrieg und bis heute: Schmerz, Ängste, Zerstörung, Vertreibung, Tod und Trauer. Und es ist ein Versuch, die Not der Betroffenen anzuerkennen, zu heilen und für Frieden einzutreten.
Solches Engagement der Künstler für die Leidenden gibt es schon seit Menschengedenken. Matthias Claudius etwa schreibt in seinem Gedicht „S’ist Krieg. S’ist Krieg“ von 1778 die Zeilen: „Was sollt ich machen, wenn im Schlaf mit Grämen / Und blutig, bleich und blaß, / Die Geister der Erschlagnen zu mir kämen, / Und vor mir weinten, was?“. Oder der berühmte spanische Maler Goya: er zeichnet in den Jahren 1810–1814 eine Bilderserie zu den "Desastres de la Guerra", den Schrecken des Krieges. Sein Landsmann Pablo Picasso malt 1938 sein berühmtes Bild „Guernica“ als Protest gegen den Krieg und Benjamin Britten schreibt Anfang der 1960er Jahre sein „War Requiem“, mit dem die neue Kathedrale von Coventry in England eingeweiht wird, nachdem die alte von deutschen Soldaten zerstört und über 500 Menschen in der kleinen Stadt von Bomben getötet worden waren. Auch dieses Requiem will Menschen zum Nachdenken anregen, zum Kampf gegen Krieg und für Versöhnung. Um die Friedensbewegung zu unterstützen, malt Picasso seine berühmte Friedenstaube mit dem Ölzweig im Schnabel.
Und doch scheinen all diese Bemühungen vergebens, und doch werden heute immer noch Kriege geführt. Was kann und soll man tun? Nimmt man die Ergebnisse der Ethnopsychologie ernst, dann braucht es mehr als Diplomatie oder Untersuchungen zur Strategie eines Krieges und zur Anzahl von Waffen. Dann hilft es, Menschen, angefangen von den Kindern bis zu den Alten, bewusst zum Frieden zu erziehen, ihnen zu vermitteln, dass der Nächste ein Mensch und kein Dämon ist, ein Mensch, der fühlt wie du und ich. Es braucht Initiativen, die das Denken weg von Rachegedanken nach dem Schema Aug um Auge, Zahn um Zahn führen. Es braucht das Engagement derer, denen im Moment keine Bomben auf den Kopf fallen und die die Propaganda der Kriegsparteien unterbrechen können, um dort Waffen zum Schweigen zu bringen und die zu Solidarität und Versöhnung motivieren. Zugegeben: In unserer Zeit, die Krieg mit Waffen, KI und zerstörerischen Posts im Internet und auch hier bei uns führt, Krieg, der nur den Machtgelüsten und der Gier weniger einzelner dient, ist das eine große Herausforderung und braucht viel Ermutigung. Robert Schuman erinnert deshalb in seiner Rede zur Gründung der Montanunion und damit letztlich der EU: „Der Friede der Welt kann nicht gewahrt werden ohne schöpferische Anstrengungen, die der Größe der Bedrohung entsprechen.“ Manchmal helfen dabei die Künstler, die Musiker und Maler, aber auch die Dichter, wie etwa Yehuda Amichai, wenn er schreibt: „Erinnert euch an das Hinausziehen in die schrecklichen Kämpfe, es führt immer an Gärten und Fenstern vorbei, an spielenden Kindern und an einem bellenden Hund. / Erinnert die fallende Frucht, die Blätter und den Zweig. / Erinnert die harten Dornen, die im Frühling zart und grün waren. / Erinnert euch und vergeßt nicht, / auch die Faust war einmal eine offene Hand.“ Die gilt es zu riskieren; sie Freund und Feind hinzuhalten, um Frieden zu schaffen, zuhause und in der Welt.