Lebenszeichen - Thomas Hufschmidt:Jeder Einzelne trägt die ganze Verantwortung
Heute vor genau 81 Jahren wurde der Widerstandskämpfer Willi Graf hingerichtet. Um 17:00 Uhr am 12. Oktober 1943 wurde er dem Scharfrichter vorgeführt. „Der Hinrichtungsvorgang“ – so heißt es in einem Schreiben des Oberstaatsanwalts München an den Reichsminister der Justiz – „dauerte vom Verlassen der Zelle an gerechnet 1 Minute 11 Sekunden, von der Übergabe an den Scharfrichter bis zum Fall des Beiles 11 Sekunden. Zwischenfälle oder sonstige Vorkommnisse von Bedeutung sind nicht zu berichten.“
Diese nüchternen Zeilen beschreiben das Ende eines Lebens. Eine Minute und 11 Sekunden liegen zwischen Leben und Tod Willi Grafs, der nur 25 Jahre alt wurde.
Willi Graf war in der Widerstandsgruppe Weiße Rose zusammen mit Hans und Sophie Scholl organisiert. Heute ist er Ehrenbürger der Landeshauptstadt Saarbrücken, wo er selbst gelebt hat und aufgewachsen ist.
Viele Orte in Saarbrücken erinnern an ihn: sein Grab auf dem St. Johanner Friedhof; zwei Schulen, die seinen Namen tragen; ein Saal im Saarländischen Landtag ist nach ihm benannt; eine Büste von Willi Graf steht im Rathaus; ein Porträt und die Willi Graf Glocke befinden sich in der Kirche der Jugend eli.ja. Diese und viele weitere Orte erinnern uns daran, dass dieser Mann uns auch heute etwas zu sagen hat.
Wenn ich an Willi Graf denke, kommen mir immer wieder Zitate aus seinen Briefen in den Sinn: Wir sollen weitertragen, was er begonnen hat, schreibt er in seinem Abschiedsbrief. Oder auch jenes bekannte Zitat aus einem Brief vom 6. Juni 1942: “Jeder Einzelne trägt die ganze Verantwortung.”
Unweigerlich stelle ich mir die Frage, was genau soll ich denn weitertragen. Was ist meine Aufgabe als Einzelner in dieser Gesellschaft?
Als zu Beginn dieses Jahres in ganz Deutschland tausende Menschen auf die Straße gingen, um gegen die rechten Parolen der AfD zu demonstrieren und für ein weltoffenes und buntes Deutschland einzutreten, habe ich gespürt, dass auch ich etwas tun muss. Eigentlich war ich nie der Typ für Demonstrationen. Ich war der Meinung, dass ich mich an Recht und Ordnung halte und dass das ausreicht. Im Frühjahr habe ich aber gemerkt, dass es mehr braucht. Ich spürte, dass ich als Einzelner Verantwortung übernehmen muss und dass es auch meine Stimme braucht. Also habe ich meinen inneren Schweinehund überwunden und bin zusammen mit ein paar jungen Menschen aus dem Umfeld der Kirche der Jugend eli.ja zu den ersten Demonstrationen gegangen. Anfangs war es noch sehr spontan. Wir trafen uns und gingen gemeinsam zur Kundgebung. Nach und nach haben wir uns besser organisiert. Wir schlossen uns als Gruppe dem Bündnis “Bunt statt Braun” an und haben ein großes Banner anfertigen lassen, um es bei den Demonstrationen mitzutragen. Auf dem Banner steht jenes Zitat von Willi Graf: “Jeder Einzelne trägt die ganze Verantwortung.”
Ich habe gespürt, dass ich zusammen mit vielen anderen auf der Straße ein Zeichen setzen kann. Ich habe öffentlich Verantwortung übernommen und gezeigt, dass ich mich für eine offene und vielfältige Gesellschaft einsetze.
Auch Schülerinnen und Schüler der Willi Graf Schulen haben mir zu diesen Fragen Antworten gegeben. Im Sinne Willi Grafs heute zu handeln hat für sie viele Dimensionen. Die Reaktionen dieser jungen Menschen machen mir Mut: Ihrer Meinung nach würde sich Willi Graf heute für Demokratie, soziale Gerechtigkeit, gegen Krieg und für Zivilcourage einsetzen. Er würde seine Stimme erheben gegen Machtmissbrauch, gegen politische und gesellschaftliche Meinungsmache im rechten Spektrum.
Mir persönlich zeigt das Lebenszeugnis von Willi Graf, dass es Mut braucht, um gegen gesellschaftliche Probleme aufzustehen. Der 12. Oktober ist für mich ein Tag der Trauer und der Erinnerung. Er ist aber vor allem ein Tag der Hoffnung, weil er am Zeugnis von Willi Graf zeigt, dass es in jeder ausweglosen Situation Menschen geben wird, die für Menschlichkeit eintreten. Es kommt auf jeden Einzelnen in dieser Gesellschaft an, um Ausgrenzung und rechten Parolen keine Macht zu geben.
Ich wünsche mir, dass viele Menschen diese Botschaft von Willi Graf hören und jeder Einzelne bei sich beginnt, die Welt ein Stück gerechter, fairer und liebevoller zu gestalten.