Lebenszeichen - Benedikt Welter:Kreuzweg BEGEHEN
Interessant ist, was nicht in der Bibel steht, aber die Vorstellungswelt der Menschen beschäftigt hat. Morgen beginnt die wichtigste Woche der Christenheit. Bei uns heißt sie, Karwoche, vom althochdeutschen „kara“, „trauern“, andernorts heißt sie Heilige Woche, Große Woche oder Hohe Woche. Da steckt alles drin, was menschliches Drama zu bieten hat. Die gläubigen Menschen haben neben der Mitfeier der Gottesdienste noch buchstäblich einen anderen Weg gefunden, um diese Woche rings um das Leiden Jesu Christi zu BEGEHEN. Er findet sich in Kirchen abgebildet, führt durch Weinberge, am Ausgang von Ortschaften hinaus, über Höhenzüge: der Kreuzweg. Interessant ist, was nicht in der Bibel steht. Von den vierzehn Stationen eines Kreuzweges stammen die meisten aus den Texten der Evangelien, den Passionserzählungen. Einige Stationen fügt jedoch die fromme Vorstellungswelt der Gläubigen hinzu: dass Jesus dreimal unter dem Tragen des Kreuzbalkens zusammenbricht und fällt; dass dem Gepeinigten eine Frau namens Veronika ein Tuch hinhält, um den Schweiß abzuwischen – in diesem Tuch manifestiert sich das Gesicht Jesu; dass nach dem Tod der Leichnam seiner Mutter in den Schoß gelegt wird – die Pieta.
In diesen Bildern, die nicht in der Bibel stehen, entdecke ich die Wirkung des Kreuzwegs. Die Menschen, die ihn gegangen sind und gehen, wollen sich nicht nur intensiver mit dem Leidensweg Jesu identifizieren. Vielmehr identifizieren sie ihn mit dem Leiden, das sie selbst zu tragen haben und tragen. Da werde ich nicht nur einmal in die Knie gezwungen, da kommt es knüppeldick: Einem Ehepaar widerfahren: ihre Mutter stirbt unvorhersehbar plötzlich, wenige Tage danach sein Vater und seine Mutter stürzt so unglücklich, dass alles an Alltag auf den Kopf gestellt ist binnen weniger Tage.
Das Schweißtuch der Veronika: ich interpretiere es als das Ergebnis einer tiefen Solidarität mit einem anderen Menschen, das Ergebnis eines zutiefst ehrlichen MITleidens mit einem DU – dessen Bild prägt sich hinein in mein Dasein; vielleicht nur schemenhaft, aber bleibend, das Antlitz des DU wird Bestandteil MEINES Lebens.
Und schließlich die Pieta: der tote Sohn im Schoß seiner Mutter; die „schmerzhafte Muttergottes“ wird dieses Bild auch genannt; in Kirchen findet sich dieses Bild oft an der Stätte, wo der Gefallenen der Kriege gedacht wird – da braucht es heute nicht viel Anstrengung, um an den Kriegsorten unserer Tage diesem Bild in grausamer Wirklichkeit zu begegnen: Kinder, die tot in den Schoß ihrer Mütter gelegt werden. Doch gerade dieses Bild – es ist das letzte der vierzehn Stationen des Kreuzwegs – ist nicht nur eines des Schreckens; es ist zugleich eines der Hoffnung.
Die weltweit bekannteste Pieta ist wohl die des Michelangelo im Petersdom in Rom. Wer sich die Zeit nimmt, sie in Ruhe zu betrachten – und sei es in einer guten Fotografie – entdeckt: auf dem Gesicht dieser jungen Maria ist ein ganz leises Lächeln zu sehen, das durch das geschundene Antlitz des in ihrem Schoß Liegenden hindurchschaut: sie sieht schon jenen frühen Morgen, an dem Frauen sich auf den Weg machen, um ein Grab zu besuchen, das dann leer ist. Und der Tote: lebendig!
Der Kreuzweg: vielerorts wird er in der kommenden Woche von Menschen begangen. Im leiden Jesu begegnen sie ihrem eigenen Leiden. Und ihr eigenes Leiden finden sie wieder in dem des Jesus. Der Kreuzweg, ein Weg, der letztlich zur Hoffnung geht.