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Lebenszeichen - Marliese Klees:“Maria durch ein Dornwald ging”

Anselm Kiefer, ein bedeutender Künstler, schafft Werke gegen Krieg, Gewalt, Tod und Erbarmungslosigkeit. Am Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus, dem 27. Januar, steht ein solches Werk von ihm, “Maria durch ein Dornwald ging”, im Mittelpunkt des LebensZeichens.
Man sieht kleine grüne Pflanzen, die gerade begiinngen zu wachsen
Datum:
27. Jan. 2024
Von:
Marliese Klees

Er gilt als einer der bedeutendsten lebenden Künstler weltweit: Anselm Kiefer. 2008 zeigt er in Salzburg eine Skulptur mit dem Titel des Weihnachtsliedes: „Maria durch ein Dornwald ging“.

Aber als ich diese Arbeit zum ersten Mal sehe, bin ich ganz irritiert: da stehe ich vor einem Stapel überdimensionaler Bleibücher. Diese hat er mit Stacheldraht, genauer  gesagt mit Rasierklingendraht umwickelt. Aber von Maria ist nichts zu sehen, auch keine Rosen, die aufblühen, als Maria durch die Dornen geht. Lediglich der Titel erinnert an sie, ansonsten ist sie nur durch Abwesenheit anwesend.

Die Arbeit mutet allen, die sie sehen, aber auch andere Fragen zu, die mit dem Leben selbst zu tun haben, Fragen nach dem Umgang mit Gewalt, dem Wert der Kunst und des Schönen. Fragen, die auch mit dem heutigen Tag, dem Gedenktag der Opfer des Nationalsozialismus verbunden sind. Das Erinnern und Gedenken an diese Zeit lastet nach wie vor bleischwer auf unserer Gesellschaft. Wie soll man auch all dem Unrecht und der Gewalt gedenken, von der man sehnlichst wünscht, dass sie nie geschehen wären?

Da legt die Arbeit „Maria durch ein Dornwald ging“ eine Spur für eine mögliche Antwort: indem der Künstler die vergangenen Gräuel durch Stacheldraht und Bleibücher thematisiert und gestaltet, ermöglicht er, die geschichtliche Schuld anderer zu benennen, ohne die Betrachter gleich als Täter oder Täterin zu brandmarken. Das Werk erlaubt uns, den Nachgeborenen, die die NS-Zeit und den Krieg nicht miterlebt haben, dass wir sehen und spüren, wie brutal und gewalttätig das Leben in dieser Zeit war, wie ohnmächtig und gefährdet die Menschen damals waren angesichts der Gewalt anderer Menschen, angesichts der Gewalt der Nazis.

Um aus dieser Gewaltspirale, diesem Teufelskreis herauszukommen, zeigt mir die Skulptur einen Weg durch den Titel. Der Künstler hat - trotz aller ihm fragwürdig erscheinenden Dogmen - eine Affinität zu Maria: er hat sie als feinfühlige Erscheinung erlebt, eine Erfahrung, die er sehr in Ehren hält, bietet sie ihm doch die Möglichkeit, sich anders zu verhalten.

Charlie Chaplin sagte einmal: „Macht brauchst du nur, wenn du Böses planst. Für alles andere reicht die Liebe.“[1] Und an die Liebe scheint sich Anselm Kiefer zu halten, indem er solche Werke gegen Krieg, Gewalt, Tod und Erbarmungslosigkeit schafft: Werke, deren Anblick schwer zu ertragen ist und die doch durchatmen lassen. Werke, die aber auch an unsere eigene Verantwortung erinnern: nämlich behutsam und feinfühlig miteinander umzugehen - so wie Maria. Die Kunst ihres Lebens ist ja sich anderen zuzuwenden, Hören auf das, was notwendig ist, und so in den Dornen des Lebens die Lebenshoffnung wieder wecken.

Ihr Leben ist Feinfühligkeit und Poesie, damit die Leidenden und Geschlagenen sich wieder aufrichten, wieder aufblühen können.

Ich meine, das kann der Sinn des Gedenkens heute sein und eine Kunst, die es zu lehren, zu lernen und zu tun gilt.

 

[1] https://ostermeier.net/wordpress/2017/10/zitat-von-charles-chaplin-ueber-macht-und-boeses/

SR 2 Lebenszeichen:“Maria durch ein Dornwald ging”