Lebenszeichen - Wolfgang Drießen:„O Heiland reiß die Himmel auf“
„Die Welt kann mich mal.“ Das steht als Überschrift über einem Artikel in meiner Tageszeitung. Die Deutschen – so steht da - gehen vor der Wirklichkeit in Deckung und ziehen sich immer mehr ins Private zurück. „Maximierung der Zuversicht durch Minimierung des Gesichtskreises“ formuliert es der Autor. Ich kann das gut verstehen. Und ich entdecke bei mir ähnliche Tendenzen. Z.B. schaue ich mir schon seit längerem nur noch ungern Nachrichten im Fernsehen an. Und der Standardsatz der Fernsehmoderatorin eines Politmagazins „Bleiben Sie zuversichtlich“, entlockt mir höchstens noch ein resigniertes Kopfschütteln. Besonders bitter für mich ist es zurzeit bei den Proben fürs Weihnachtskonzert. Ich singe im Chor und die Texte der Advents- und Weihnachtslieder gehen mir nur schwer von den Lippen. Vom Licht, das die Nacht erhellen wird, vom Kind, das geboren wird, davon, dass alles gut wird. Dem Jesuitenpater Friedrich Spee von Langenfeld ist es vor genau 400 Jahren wohl ganz ähnlich ergangen. Und er hat ein Adventslied geschrieben, das seine Gemütsverfassung damals gut beschreibt:
„O Heiland reiß die Himmel auf,
herab, herab vom Himmel lauf.
reiß ab vom Himmel Tor und Tür,
reiß ab, wo Schloss und Riegel für.“
1622 hat Spee diesen Text geschrieben. In Europa wütet der dreißigjährige Krieg.
"Finsternis", "Jammertal", "größte Not", "ewig Tod". Sein Text scheint sehr pessimistisch.
Der geschichtliche Hintergrund der Zeit war allerdings dunkel und dramatisch, nicht nur für Spee: der junge Jesuitenpater war in der "Sonderseelsorge" eingesetzt. Er musste Frauen, die als Hexen zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt waren, geistlich auf ihr Martyrium vorbereiten. Spee lehnt sich auf und verfasst eine berühmte Streitschrift gegen den Hexenwahn. Aber nicht nur das. Als er mit 44 Jahren stirbt, hinterlässt er auch eine Sammlung geistlicher Lieder und Gedichte. Der Titel ist das Programm: „Trutz-Nachtigall.“ In seiner von Not gezeichneten Zeit will er - betörend wie die Nachtigall- in der Sprache des Volkes von der Hoffnung wider alle Hoffnung singen: Im eingangs zitierten Lied „O Heiland reiß die Himmel auf“ heißt es weiter:
Wo bleibst du, Trost der ganzen Welt,
Darauf sie all' ihr' Hoffnung stellt?
O komm, ach komm vom höchsten Saal,
Komm tröst uns hier im Jammertal.
Ein "Jammertal" – das ist für viele die Welt 2023. Da muss doch einer den Himmel aufreißen, Erbarmen und Huld und Menschenfreundlichkeit auf uns und unser Land, vielleicht sogar die ganze Welt schütten! "Wo bleibst du, Trost der ganzen Welt"? das fragen sich auch heute die Menschen. Und sie wissen nicht, woher ihnen eine Antwort kommen könnte. Das unterscheidet sie von Friedrich Spee:
„Hier leiden wir die größte Not,
Vor Augen steht der ewig' Tod;
Ach komm, führ uns mit starker Hand
Vom Elend zu dem Vaterland“
Im katholischen Gesangbuch ist dies die letzte Strophe und es ist auch die letzte, die Fredrich Spee geschrieben hat.
Das Happy End, die Rettung aus dem Jammertal steht noch aus. Der Ruf nach dem Gott, der in diese Welt hereinkommt, der Ordnung und Gerechtigkeit herstellt ist ja bis jetzt ohne die erhoffte Antwort geblieben. Und trotzdem wird dieses Lied bis heute gesungen, ist seine Botschaft noch nicht verloren gegangen. Sie klingt nur immer leiser durch die Welt, weil die Menschen Trost und Kraft nicht mehr in den Kirchen suchen.
Friedrich Spee hat nicht aufgegeben. Er konnte den kollektiven Wahn seiner Zeit nicht aufhalten, aber die Hoffnung des Advents hat ihn bis zu seinem Tod weiter an einer besseren Welt arbeiten lassen. Und ich – ich werde auch in diesem Jahr singen, - im Weihnachtskonzert - laut und deutlich, auch wenn es mir schwerfällt. Vom Licht am Horizont, davon, dass eines Tages tatsächlich die Tür zum Himmel auffliegt und die ganze Erde von diesem strahlenden Licht erhellt und erwärmt wird. Das ist christliche Hoffnung im Advent.