Zwischenruf - Luisa Maurer:Ok, du bist auch nur ein Mensch

Ich sitze mit Marie und ihrer Freundin Clara zusammen. Die beiden besuchen die Oberstufe. Marie erzählt von Leuten aus der Schule. Sie erzählt von – nennen wir sie Doris und was sie manchmal an Doris nervt. Nach einer Weile frage ich sie: “Sag mal, Marie, wer ist eigentlich diese Doris?”
Die beiden Mädchen lachen. Marie antwortet: “Das ist unsere Lehrerin.” Ich bin kurz verwundert und frage: “Sprecht ihr eure Lehrerin mit dem Vornamen an?” Marie schüttelt den Kopf. “Nein, aber ich kenne den Vornamen jeder Lehrerin und jedes Lehrers meiner Schule. Und wenn ich mit meinen Freundinnen über sie spreche, dann nenne ich sie immer beim Vornamen. Das hilft mir.” Ich komme noch nicht ganz mit und hake nach. Marie erklärt mir: “Ich mag das. Die Lehrerin beim Vornamen zu nennen. Dann ist sie nahbarer. Wenn die Lehrer dann Fehler machen, kann ich das besser verzeihen. Ich denke mir dann: Ok, Doris, du bist auch nur ein Mensch.”
Ich muss lächeln. Ich denke daran, wie ich über andere Menschen rede. Vor allem, wenn ich mich über andere ärgere. Marie hat recht: Da kommt mir oft über die Lippen: Der da oder die da hat sie doch nicht mehr alle, der Mayer hat das und die Müller jenes getan. Sobald ich solche unpersönlichen Bezeichnungen durch den Vornamen ersetze, sind die Menschen tatsächlich nahbarer. Marie erinnert mich heute daran: Verzeihen ist möglich. Und es hilft mir, mich kurz zu erinnern: Der oder die andere ist auch nur ein Mensch. Ich nehme es mir vor: Das nächste Mal, wenn ich mich über jemanden ärgere, nenne ich den- oder diejenigen beim Vornamen und denke mir: Ok Doris oder Julia oder Oliver, du bist auch nur ein Mensch.