Lebenszeichen - Luisa Maurer:Situationen, in denen ich laut werden muss
Mir schlägt das Herz bis zum Hals. Ich merke, wie ich innerlich koche. Meine Hände balle ich zu Fäusten. Und ich spüre, wie mir das Blut ins Gesicht steigt. Ich bin auf einer Fastnachtsparty und stehe spät abends am Ausgang der Festhalle. Ich beobachte einen Mann. Er albert mit einem Jugendlichen herum. Sie beginnen sich zu raufen. Zu Beginn lachen beide. Doch als der ältere ihn packt und an die Wand drückt, sehe ich im Gesicht des Jugendlichen kein Lächeln mehr. Ich könnte schreien. Doch ich tue nichts. Innerlich koche ich vor Wut. Ich bin kurz davor, auf den Mann zuzugehen und ihn anzubrüllen. Kurz überlege ich, ob ich die Situation richtig einschätze. Doch der Punkt ruhig zu bleiben ist überschritten, denke ich mir. Von den beiden unbemerkt mache ich den ersten Schritt. Da lässt der ältere Mann den jüngeren los und bemerkt scheinbar, dass das gerade zu grob war. Die Situation entspannt sich. Ich bleibe stumm.
Auf dem Heimweg mache ich meinem Ärger Luft. Ich erzähle meinem Freund von diesem Vorfall. Ich schimpfe und bin empört über diesen Mann - aber auch über mich, dass ich nicht früher und überhaupt laut geworden bin. Beim nächsten Mal will ich noch früher mutiger sein. Denn wo Menschen Leid passiert, da darf ich nie ruhig bleiben. Das gilt für meine Kirche, aber eben auch für eine Fastnachtsparty.
Diese Szene ist nun ca. vier Wochen her. Doch an diesem Wochenende denke ich wieder daran, als ich den Bibeltext dieses Sonntags lese. Da kommt Jesus in den Tempel in Jerusalem hinein. Ihm passiert etwas sehr Ähnliches. Ok, ganz kann man das nicht vergleichen. Aber er sieht etwas, das auch ihm das Herz bis zum Hals schlagen und das Blut ins Gesicht steigen lässt. Man könnte denken, Jesus, dieser fromme Typ, bleibt jetzt ganz diplomatisch und ruhig. Aber nein. Er wird richtig laut. Er stößt Tische um und schreit die Leute an.
Denn im Tempel haben sich Verkäufer von Rindern, Schafen und Tauben versammelt. Sie wollen aus dem damaligen Opferkult Profit schlagen und Tiere verkaufen. Geldwechsler rufen durch den Tempel und machen ihre Geschäfte. Dazu ist dieser Ort nicht da! Jesus befreit die Tiere, treibt sie aus dem Tempel heraus. Er schreit. Der Tempel soll ein Ort des Gebets sein und der Begegnung mit sich selbst, mit anderen, mit Gott. Aber kein Ort, an dem jede und jeder nur an sich und seinen Gewinn denkt. Und vor allem darf es nichts kosten, wenn Menschen in einen Tempel gehen möchten. Für Jesus ist klar: Wer seine Beziehung zu Gott pflegen möchte, der muss dafür kein Geld ausgeben, keine Tiere oder sonst was kaufen.
Natürlich ist laut werden nicht immer eine Lösung. Dennoch: Manchmal ist es notwendig. Und zwar nicht aus bloßer Wut und Laune heraus. Sondern, wenn es darum geht, sich für andere einzusetzen.
Die Stimme erheben. Das tun in diesen Tagen viele Menschen. Sie gehen auf die Straße und werden laut. Gegen Rechtsextremismus. Für Menschenrechte. Sie wollen nicht akzeptieren, dass sich demokratiefeindliche Kräfte in unserem Land breit machen und das letzte Wort haben. Und Gott sei Dank werden in Kirche und Gesellschaft auch immer mehr Menschen laut. Sie setzen sich dafür ein, dass in dieser Welt kein Platz für Gewalt und Krieg ist. Auch wenn wir von einer solchen Welt leider noch weit entfernt sind. Seine Stimme zu erheben, ändert etwas.
Die Menschen, die Jesus im Tempel beobachten fragen ihn: “Wieso darfst du das tun? Was legitimiert dich dazu?” Seine Antwort verstehen sie noch nicht. Er gibt einen Hinweis darauf, dass er nach drei Tagen im Grab wieder auferstehen wird. Er steht für das Leben, nicht für den Tod. Vielleicht ein guter Maßstab, wenn ich mich das nächste Mal frage, ob es nun angebracht ist, zu schreien: Wenn es dem Leben dient, darf und muss ich auch mal laut werden.